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Öffnet Citizen Science dem Neoliberalismus die Tür?

07. Dezember 2017 von Katrin Vohland

Der Aufstieg von Citizen Science wird von verschiedenen Akteurinnen und Akteuren aus unterschiedlichen Gründen mit Unbehagen beobachtet. Ein Argument, welches in der aktuellen Debatte an Aufmerksamkeit gewinnt, ist, dass Citizen Science dem Neoliberalismus in der Wissenschaft Vorschub leistet: Nicht mehr das hehre wissenschaftliche Ideal des uneigennützigen Erkenntnisstreben stehe im Vordergrund, sondern die naive Citizen-Science-Community öffne der Ausbeutung von Bürgerinnen und Bürgern durch große Unternehmen oder auch nur staatliche Umweltbehörden Tür und Tor. Rebecca Lave macht das in ihrer lesenswerten Analyse an der unentgeltlichen Erhebung von Umweltdaten durch Citizen Scientists fest, Philop Miroswki verweist in seinem polemischen Artikel auf durchaus fragwürdige Projekte – ohne jedoch auf die entsprechenden Diskurse innerhalb der Citizen-Science-Community einzugehen. 

Was wird überhaupt unter Neoliberalismus verstanden?

Es gibt wohl wenige Begriffe, die einen so tiefgreifenden Bedeutungs- und Konnotationswandel durchgemacht haben, wie der Begriff des Neoliberalismus, nachzulesen in einer Metastudie von Boas und Gans-Morse. Entstanden ist er in den 30ern des letzten Jahrhunderts als Abgrenzung zu einer stark auf Marktmechanismen ausgerichteten Wirtschaftsvorstellung, der gegenüber sozial ausgleichende Elemente als „neoliberal“ beschrieben wurden. Letztlich entspricht die ursprüngliche Bedeutung von Neoliberalismus unserer aktuellen einer sozialen Marktwirtschaft. Verknüpft mit einer generellen Kapitalismuskritik ist der Begriff Neoliberalismus seit den 90ern wieder im öffentlichen Diskurs aufgetaucht und steht für eine quasi ausschließliche Marktbasierung. Bezogen auf die Wissenschaft heißt das, dass Marktmechanismen anstelle einer grundsätzlichen Finanzierung der Wissenschaft eine zunehmende Rolle spielen. Ein Beispiel ist der Wettbewerb um Fördermittel: Projekte konkurrieren miteinander um Ressourcen, die wirtschaftliche Nutzbarkeit spielt oft eine wichtige Rolle, bis hin zu Unternehmen, die Einfluss auf Forschungsagenden nehmen. Und ehrenamtlich in der Forschung engagierte Bürgerinnen und Bürger, die Citizen Scientists, unterliegen in Forschungsvorhaben teilweise kapitalistischen Mechanismen – sie werden für ihre Leistungen nicht bezahlt.

Arbeiten Bürgerinnen und Bürger umsonst?

Das ist ein Diskurs, der tatsächlich zu führen ist, insbesondere im Bereich der Biodiversitätsforschung, bzw. Biodiversitätsberichterstattung. So tragen Ehrenamtliche stark dazu bei, dass Deutschland seinen Berichtspflichten beispielsweise im Rahmen des Übereinkommens zur biologischen Vielfalt (CBD) nachkommen kann, wie das Bundesamt für Naturschutz berichtet. Nicht nur wegen der Ausnutzung des großartigen Engagements von Bürgerinnen und Bürgern, die in ihrer Freizeit Arten bestimmen, Verbreitungskarten entwickeln und Rote Listen erstellen, sondern weil damit auch eine unglaubliche staatlich unterstützte Geringschätzung gegenüber Natur zum Ausdruck kommt. So ist beispielsweise das Biodiversitätsmonitoring in Deutschland stark fragmentiert und hängt an einer Vielzahl von unterschiedlichen Akteuren durchgeführten Programmen, aber ohne ausreichende politische Unterstützung, wie ein kürzlich dazu durchgeführtes Fachgespräch aufzeigt. 

Ein anderer Bereich ist die kommerzielle Nutzung von umsonst zur Verfügung gestellten Daten und Informationen. Für das Feld Citizen Science betrifft das v.a. den Gesundheitssektor, wo Bürgerinnen und Bürger Stuhl einschicken, ihre Schrittzähldaten zur Verfügung stellen oder auch gemeinsam mit Ärztinnen und Ärzten, und Gesundheitswissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern Forschungsfragen formulieren, um den wissenschaftlichen Fortschritt zu fördern. Hier sind in der Tat mehr Aufklärung, eine Klärung der Rollen und ein klarer Rechtsrahmen zur Nutzung der Daten nötig. Lösungsvorschläge werden auch im Rahmen der Open-Science-Bewegung erarbeitet, die sich grundsätzlich für die freie Verfügung von Daten und Informationen einsetzt – und auch unter „Neoliberalismusverdacht“ steht. 

Der guten Praxis von Citizen Science entspricht diese – physische/laborative und informative/digitale – Ausbeutung von Beitragenden indes nicht. In den 10 Prinzipien guter Praxis, die die Europäische Citizen Science Association (ECSA), ein Verein mit mittlerweile über 200 institutionellen und persönlichen Mitgliedern aus ganz Europa und darüber hinaus, formuliert hat und die nicht nur ins Deutsche, sondern in 26 Sprachen übersetzt wurden, wird eine faire Kooperation zwischen den Akteuren – Forschenden, Bürgerinnen und Bürger, Ehrenamtlichen und weiteren – angemahnt. Dabei müssen die Wertschätzung oder Bezahlung gar nicht unbedingt monetär sein, auch Fortbildungen, die Ermöglichung sozialer Zugänge, namentlicher Anerkennungen und andere Reputationswährungen können Formen der Wertschätzung sein. Wichtig ist, dass Akteure und ihre Interessen sowie die Verwendung der Daten und anderer kognitiver Ergebnisse transparent gemacht werden.

Wie hat sich die Rolle des Staates in der Wissenschaftslandschaft verändert?

In vielen Artikeln, die sich mit dem Verhältnis zwischen Ökonomie und Wissenschaft befassen – lesenswert dazu z.B. das Routledge Handbuch zur politischen Ökonomie von Wissenschaft – wird dem Staat eine abnehmende gestalterische Rolle in der Entwicklung von Wissenschaft zugeschrieben. Dabei ist der Referenzzeitraum nicht immer ganz klar. Während „früher“ nur privilegierte und v.a. männliche Personen Forschung betrieben (die ersten Citizen Scientists, Leonardo da Vinci, Charles Darwin, nur Maria Sibylla Merian war eine Ausnahme), gibt es seit dem 19. Jahrhundert staatlich finanzierte Universitäten und seit den 70ern eine sehr starke Akademisierung der Gesellschaft. Allein im Jahr 2016 haben 867.472 Personen ein Studium in Deutschland aufgenommen. 

Für die Förderung von Wissenschaft und Forschung werden entsprechend staatliche Gelder ausgegeben, also Steuergelder. Steuern haben (oder sollten haben …) eine  lenkende Funktion, die übergeordneten gesellschaftlichen Zielen dienen soll (sozialer und politischer Frieden, Wirtschaft und Innovation, Nachhaltigkeit, …). Insofern gibt es einen intrinsischen Konflikt zwischen Wissenschaft, die de facto ein eigenes, in großen Teilen selbstreferentielles System darstellt, und anderen gesellschaftlichen Anspruchsgruppen. Nicht jede wissenschaftliche Frage dient übergeordneten Zielen, und soll das auch gar nicht. Die Freiheit der Forschung ist ein hohes Gut. Um das aber umzusetzen, und nicht nur von Haus aus reichen Personen die Beteiligung an Forschung zu ermöglichen, benötigt diese Geld – und um dieses konkurriert das Wissenschaftssystem eben mit dem Gesundheitssystem, dem Straßenbau und den Schulen. Diesen Wettbewerb würde ich noch nicht als neoliberal bezeichnen. 

Neu an der aktuellen Citizen Science Bewegung sind nicht nur die technischen Möglichkeiten, sondern auch die normative Aufladung

Während schon die Wissenschaft selbst zunehmend bemüht ist, ihre Relevanz für die Gesellschaft herauszuheben, gilt das für Citizen Science in besonderem Maße. Wenn ich gefragt werde, was denn so neu an Citizen Science ist, sage ich meistens, dass es das Zusammentreffen verschiedener Prozesse ist: das aktuell große gesellschaftliche Bedürfnis nach Beteiligung und Teilhabe, der hohe Anteil wissenschaftsaffiner Personen in der Gesellschaft, die neuen technischen Möglichkeiten der digitalen Kommunikation und Datenbankverwaltung. Zudem finden sich die Akteure global zusammen. Es gibt zunehmend nationale Netzwerke, in Deutschland, in Österreich gleich zwei, in der Schweiz, in Australien, gerade letzten Monat formierte sich das Italienische Citizen Science Netzwerk, und auch internationale Verbände formieren sich, in Europa, Nord- und Südamerika. Citizen Science ist eine Bewegung geworden.

Und diese Bewegung verbinden gemeinsame Ziele und Werte. ECSA hat neben den Prinzipien guter Praxis in Citizen Science auch eine Strategie entwickelt. Dort wird explizit auf den Zusammenhang zwischen Citizen Science und nachhaltiger Entwicklung hingewiesen. In vielen Debatten geht es darum, wie der Bias hin zu Akademikerinnen und Akademikern überwunden werden kann, und der Citizen-Science-Ansatz auch für benachteiligte Gruppen nutzbar gemacht werden kann. 

Das selbstreflexive Potential der Citizen-Science-Community wird unterschätzt

In verschiedenen Projekten und diese vernetzend im Rahmen einer europäischen COST (Cooperation in Science and Technology) Action reflektieren Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, Initiatorinnen und Initiatoren von Citizen-Science-Projekten und andere über das Veränderungspotential von Citizen Science für das Verhältnis von Wissenschaft zu anderen gesellschaftlichen Subsystemen: Führt Citizen Science zu einer Ermächtigung benachteiligter Gruppen, und unter welchen Bedingungen? Was haben Bürgerinnen und Bürger von einer Beteiligung, wie können sie persönlich wachsen, lernen sie etwas oder werden sie instrumentalisiert? Wo verläuft die Grenze zwischen dem Entwickeln von Forschungsthemen, Forschungsagenden und der Einflussnahme auf die Allokation von Forschungsmitteln? (Was dann eher ein wissenschaftspolitisches Thema wäre.) Große Teile der Community treffen sich auch auf Tagungen und Foren, um diese Punkte zu diskutieren. Allerdings nicht unbedingt mit den Citizen Scientists selbst – die verbringen ihre Zeit meistens lieber in ihren Projekten. 

Mit dem Anspruch an Nachhaltigkeit und gesellschaftlicher Kohäsion bietet Citizen Science einen Gegenentwurf zur reinen Marktorientierung von Forschung – nämlich Rollenmodelle einer verantwortlichen Forschung (RRI)

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass eine gewisse Wachsamkeit durchaus angebracht ist, damit das Engagement von ehrenamtlichen Forscherinnen und Forschern, den Citizen Scientists, nicht dahingehend missbraucht wird, Kosten zu sparen, Legitimation zu organisieren oder staatliche Verantwortung auf Bürgerinnen und Bürger abzuwälzen. Diskurse innerhalb der wachsenden Citizen-Science-Community selbst führen dazu, dass diese nicht nur wissenschaftliche (die sind gesetzt), sondern auch ethische Anforderungen an sich selbst stellt: Es soll auf Inklusion geachtet werden, in Bezug auf Geschlecht, Herkunft oder sozialen Status, Citizen Science soll Nachhaltigkeitszielen dienen, es soll Rückkopplungs- und Anerkennungsmechanismen für die Beteiligten geben, die Daten sollen frei verfügbar sein. Und Spaß soll es auch noch machen!

Katrin Vohland

Katrin Vohland ist wissenschaftliche Geschäftsführerin und Generaldirektorin des Naturhistorischen Museums (NHM) Wien. Zuvor war sie Leiterin des Forschungsbereichs Museum und Gesellschaft des Museums für Naturkunde Berlin.