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Public Humanities und Citizen Science: Dasselbe in Grün?

10. August 2021 von Gastautor*in(nen)
Foto: Nine Koepfer/Unsplash
Foto: Nine Koepfer/Unsplash

- ein Gastartikel von Barbara Heinisch (Universität Wien/Zentrum für Translationswissenschaft) -

Während Citizen Science in den Naturwissenschaften mittlerweile Eingang in sehr viele Disziplinen gefunden hat, sind Citizen-Science-Ansätze in den Geisteswissenschaften noch eher die Ausnahme. Ein Grund dafür mag sicher sein, dass sich manche geisteswissenschaftlichen Ansätze zur Einbindung der Öffentlichkeit in wissenschaftliche Forschung nicht mit „Citizen Science“ identifizieren. Aber woran liegt das?

Citizen-Science-Ansätze in den Geisteswissenschaften: Die Citizen Humanities

Laut der European Citizen Science Association (ECSA) sind die Geisteswissenschaften (unabhängig von der Disziplin)  ausdrücklich mitgemeint, wenn von „Citizen Science“ die Rede ist  (ECSA 2020, 2). Einen Strich macht einem hier leider die englische Sprache durch die Rechnung, denn „science“ schließt die Geisteswissenschaften dezidiert aus. Während es in Europa also zumindest laut ESCA noch Einverständnis darüber gibt, dass sich auch geisteswissenschaftliche Projekte als „Citizen-Science-Projekte“ bezeichnen dürfen/sollen, solange sie die Bürger*innen in den Forschungsprozess miteinbeziehen, kann es auf internationaler Ebene zu Missverständnissen kommen. Daher sind auch die Begriffe Citizen Social Science (Purdam 2014) für sozialwissenschaftliche Initiativen und schließlich Citizen Humanities (Heinisch et al. 2021) für geisteswissenschaftliche Vorhaben aufgekommen. Andererseits dienen diese Benennungen auch dazu, den Forschungsgegenstand klar abzugrenzen: Citizen Science beschäftigt sich mit Natur (Naturwissenschaften), Citizen Social Science mit dem gesellschaftlichen Zusammenleben (Sozialwissenschaften) und die Citizen Humanities mit der menschlichen Kultur (Geisteswissenschaften). Der Begriff Citizen Humanities bezeichnet also die Einbindung von Angehörigen der Öffentlichkeit in die Geisteswissenschaften, also in Disziplinen wie Geschichte, Archäologie, Sprache, Literatur, Philosophie und Kunst, aber auch die Mitarbeit von Freiwilligen in Kulturerbeinstitutionen, wie Museen, Archiven oder Bibliotheken. Hierbei werden die Aufgaben und das Forschungsdesign in der Regel von wissenschaftlicher Seite vorgegeben, wobei die Wissenschafter*innen eine bestimmte Fragestellung mit Hilfe von Freiwilligen bearbeiten. Ein Beispiel hierfür ist die Transkription von handschriftlichen Fragmenten, wobei die Teilnehmenden eine von den Wissenschafter*innen zur Verfügung gestellte Plattform benutzen und vorgegebene Transkriptionsregeln befolgen.

Wenn ich unser sprachwissenschaftliches Projekt im deutschsprachigen Raum vorstelle, dann bezeichne ich es immer als „Citizen-Science-Projekt“, weil ich mich einerseits auf die Definition der ECSA berufe und andererseits in der deutschen Sprache „Science“ oft auch (fälschlicherweise) mit der deutschen (alle Disziplinen umfassenden) Benennung „Wissenschaft“ gleichgesetzt wird.

Aber: Was hat Citizen Science in den Geisteswissenschaften eigentlich mit den Public Humanities zu tun?

Einfluss der Public Humanities auf geisteswissenschaftliche Citizen-Science-Ansätze

Die Public Humanities werden oftmals mit „Wissenschaftskommunikation“ in den Geisteswissenschaften gleichgesetzt. Sie können aber auch das soziale Engagement von Geisteswissenschafter*innen, das gemeinsame Reflektieren oder Lösen von gesellschaftlichen Problemen durch Wissenschafter*innen und gesellschaftliche Akteur*innen umfassen. Egal, ob die Public Humanities jetzt „reine“ Wissenschaftskommunikation in Form von Ausstellungen, Vorträgen oder Festivals sind oder zur Lösung gesellschaftlicher Probleme beitragen: In beiden Fällen ist die Kommunikation mit den Bürger*innen zentral.

Sind die Public Humanities damit integraler Bestandteil der Citizen Humanities?

Obwohl es definitiv Überschneidungen gibt (vor allem, was Wissenschaftskommunikation und das Zugehen der Forscher*innen auf die Öffentlichkeit betrifft), so erschweren uneinheitliche Definitionen von „Public Humanities“ eine klare Antwort auf diese Frage. Denn zu den Public Humanities können auch sämtliche von Bürger*innen initiierte Tätigkeiten (auch ohne wissenschaftliche Begleitung) gezählt werden, die in das Themenfeld der Geisteswissenschaften fallen. Beispiele hierfür sind die Geneaologie, die Lokalgeschichte, private Sammlungen oder das Erstellen von Katalogen über Jahre hinweg (Genaueres hier:  https://publicdh.hypotheses.org/136).

Die Geisteswissenschaften setzen sich mit der Bedeutung von Kultur, dem Verständnis von Werten und Phänomenen auseinander. Die Aufgaben der Citizen Humanists umfassen neben dem Aufwerfen von Fragestellungen, Hinterfragen von Forschungsparadigmen oder eigenständiger Exploration auch „massentauglichere“ Formen der Beteiligung wie Transkriptionen, Annotationen, Interpretation oder Katalogisierung von Objekten, teils auch in Form von spielerischen Zugängen.

Grenze zwischen Mitforschenden und Beforschten

In den Geisteswissenschaften kann es durchaus vorkommen, dass die Grenze zwischen den Teilnehmer*innen (den Mitforschenden) und den Beforschten verschwimmt. Das gilt es auch immer wieder in unserem sprachwissenschaftlichen Citizen-Science-Projekt „IamDiÖ – Erforsche Deutsch in Österreich“ hervorzuheben, in dem wir den Gebrauch der deutschen Sprache in Österreich untersuchen. Obwohl der Zugang zum Sprachgebrauch über die Sprecher*innen selbst (die Beforschten) erfolgt, so werden sie in unterschiedliche Schritte des wissenschaftlichen Prozesses eingebunden (und werden so zu Mitforschenden). Die Teilnehmer*innen von IamDiÖ haben verschiedene Möglichkeiten, sich an wissenschaftlicher Forschung zu beteiligen. Während bei der „Frage des Monats“, die Bürger*innen selbst Forschungsfragen zum Thema Deutsch in Österreich stellen (und gerne auch selbst beantworten) können, erforschen sie bei linguistischen Schnitzeljagden die Sprachlandschaft Österreichs, indem sie Schrift im öffentlichen Raum suchen, fotografieren und annotieren. Seit Kurzem können sie auch an einer Online-Sammlung (in Form eines Wörterbuchs) zur Sprache in Österreich beitragen, indem sie Einträge zu dialektalen, jugendsprachlichen, standardsprachlichen oder fachsprachlichen Ausdrücken nach lexikografischen Prinzipien erstellen.

Der Mehrwert von Citizen Science in den Geisteswissenschaften

Die Citizen Humanities sind mittlerweile fester Bestandteil der Citizen-Science-Landschaft. Während die klassischen Herausforderungen die gleichen wie in naturwissenschaftlich orientierten Vorhaben in Citizen Science sind, z.B. bei der Einbindung von Interessierten, so unterscheiden sie sich durch ihren Forschungsgegenstand und die Methodologie. Außerdem kann Citizen Science in den Geisteswissenschaften den Anspruch haben, die Wissensschätze, die in Archiven, im digitalen Umfeld und den Köpfen von Menschen verborgen sind, einzubeziehen, wertzuschätzen und anzuerkennen, um damit auch Veränderungen im Wissens- und Wissenschaftssystem hervorzurufen. Citizen Science verändert und öffnet die Wissenschaft ja bereits. Citizen Science in den Geisteswissenschaften trägt zum Erhalt und Verständnis des kulturellen Erbes aber auch zum Zugang dazu bei.

In einer durch Menschen gestalteten Welt können die Citizen Humanities außerdem zur Lösung globaler Herausforderungen, wie Klimawandel und soziale Ungleichheit, beitragen. Um diesen globalen Herausforderungen zu begegnen, reichen Forschung und Einwicklung alleine nicht, sondern es bedarf auch eines Wertewandels. Werte und ihre Verwobenheit mit Kultur sowie kritisches Denken sind bekanntlich das Herzstück der Geisteswissenschaften. Deswegen kann Citizen Science in den Geisteswissenschaften einen wesentlichen Beitrag zur Lösung globaler Herausforderungen leisten.

Referenzen

ECSA. 2020. “ECSA’s Characteristics of Citizen Science.

Heinisch, Barbara, Kristin Oswald, Maike Weißpflug, Sally Shuttleworth, and Geoffrey Belknap. 2021. “Citizen Humanities.” In the Science of Citizen Science, edited by Katrin Vohland, Anne Land-Zandstra, Luigi Ceccaroni, Rob Lemmens, Josep Perelló, Marisa Ponti, Roeland Samson, and Katherin Wagenknecht, 97–118. Cham: Springer.

Purdam, K. 2014. “Citizen Social Science and Citizen Data? Methodological and Ethical Challenges for Social Research.” Current Sociology 62 (3): 374–92. doi:10.1177/0011392114527997.

Wir bedanken uns bei Autorin Barbara Heinisch für den Gastbeitrag. Gerne möchten wir an dieser Stelle auch auf das Interview über das Projekt “Social Citizen Science - zur Bearbeitung von Zukunftsfragen” mit Claudia Göbel und Justus Henke hinweisen, das wir 2020 geführt haben.

Gastautor*in(nen)

Auf dem Blog von Bürger schaffen Wissen laden wir Gastautor*innen ein über ihre Perspektive auf Citizen Science und jeweilige Themenschwerpunkte zu berichten. Gastbeiträge spiegeln nicht zwangsläufig die Meinung der Redaktion wider.