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Bürger schaffen Wissen

Die Plattform für Citizen-Science-Projekte aus Deutschland: Mitforschen, präsentieren, informieren!

„Wir wollen das Digitale und Analoge miteinander verbinden” – Nachgeforscht bei Florentine Nadolni von Museum Utopie und Alltag digital

11. März 2022 von Fabienne Wehrle
Hartschalenkoffer mit braunem Lederbezug, Sammlung Museum Utopie und Alltag, Foto: Armin Herrmann
Hartschalenkoffer mit braunem Lederbezug, Sammlung Museum Utopie und Alltag, Foto: Armin Herrmann

Badeschuhe, Campinggeschirr, Kühltasche – Auf der Plattform Museum Utopie und Alltag digital können Nutzer*innen Alltagsobjekte aus der DDR entdecken und mit ihren eigenen Erinnerungen zur Sammlung beitragen. Wir haben mit Florentine Nadolni, Leiterin des Museum Utopie und Alltag in Eisenhüttenstadt, über das Citizen-Science-Projekt gesprochen. 

Worum geht es bei Museum Utopie und Alltag digital?

Museum Utopie und Alltag digital ist eine interaktive Plattform, die wir im Kontext der NEUSTART KULTUR Projektförderung für die Digitalisierung von Kultureinrichtungen im Programm der Kulturstiftung des Bundes realisieren konnten. Die Plattform ermöglicht es uns zum einen, unsere sehr große Sammlung von geschätzt 170 000 Objekten der Alltagskultur der DDR sukzessive einzustellen und mit Basisinformationen anzureichern. Zum anderen – und das ist eben das neue und sehr wichtige – erhalten Nutzer*innen die Möglichkeit, ihre eigenen Erinnerungen, Gedanken und Fotografien, die ihnen zu den Objekten einfallen, auf die Plattform hochzuladen und sie so mit ihren individuellen Perspektiven zu bereichern. Wir als Museum sind also nicht nur Sender, sondern auch Empfänger. 

Das Projekt bezieht sich auf die Idee des Demokratischen Museums. Was steckt hinter diesem Ansatz?

Die Idee des Demokratischen Museums war tatsächlich schon in der Institutionsgründung angelegt. Das Museum – damals hieß es noch Dokumentationszentrum Alltagskultur der DDR – arbeitet seit 1993 mit dem Ansatz des sogenannten passiven Sammelns. Der damalige Leiter und Kurator, Andreas Ludwig, wollte nicht selbst auswählen, was denn aufbewahrungswürdig sei, sondern er rief die Menschen dazu auf, die Dinge ins Museum zu bringen, die sie für aufbewahrungswürdig hielten. Dabei wurden nicht nur die Objekte selbst in die Sammlung aufgenommen, sondern, wo die Kapazitäten da waren, auch die dazugehörigen Geschichten. Wir als Museum Utopie und Alltag verstehen uns als eine dezidiert partizipativ und kooperativ arbeitende Einrichtung und sind sehr froh, dass wir jetzt mit diesem neuen Tool eine Möglichkeit schaffen konnten, diese Offenheit unserer Arbeit auch digital sichtbar und erlebbar zu machen.

Wie tragen Bürger*innen zum Projekt bei?  

Bürger*innen tragen zu Museum Utopie und Alltag digital bei, indem sie ihre Geschichten, Erinnerungen und Fotografien zu Alltagsobjekten der DDR auf unsere Plattform hochladen und unsere Sammlung so durch ihre individuellen Perspektiven erweitern. Neben der digitalen Ansprache können wir uns außerdem vorstellen, das Projekt mit klassischen analogen Formaten – beispielsweise einem Erzählcafé – zu ergänzen. Dabei würde sich eine Gruppe vor Ort an das Museum anschließen und uns begleiten, zum Beispiel auch in der Bestückung der digitalen Plattform mit weiteren Sammlungsobjekten. Inwieweit wir die Beteiligung von Bürger*innen in dieser Form vertiefen können, ist allerdings von Fördermitteln abhängig und wird sich erst in den kommenden Monaten zeigen. 

Wie gelingt dem Projekt die Ansprache der DDR-Zeitzeug*innen?

Unsere Plattform ist im November gelauncht, wir machen also gerade die ersten Erfahrungen damit, wie Menschen auf die Webseite reagieren und beobachten, wo es eventuell noch Schwellen in der Ansprache oder Nutzung der Plattform gibt, um dann gegebenenfalls noch Anpassungen vorzunehmen. Um im digitalen Raum auf das Projekt aufmerksam zu machen, spielen wir Fotos von einzelnen Objekten mit ihren Geschichten und Hintergrundinformationen zusammen mit aktivierenden Fragen in unsere Kanäle bei Instagram und Facebook. Auf Facebook sind wir aktiv geworden, weil wir dort unsere Zielgruppe, also Personen, die noch eigene Erinnerungen an die DDR haben, finden. Außerdem gibt es dort bereits viele Gruppen engagierter Bürger*innen, die sich mit verschiedenen Aspekten der Alltagskultur der DDR beschäftigen und die wir als Multiplikator*innen ansprechen. 

Wir wollen aber nicht nur Menschen erreichen, die in der DDR gelebt haben und aus diesem Kontext heraus ihre Geschichten erzählen können, sondern auch eine junge Zielgruppe dazu ermuntern, sich mit Geschichte auseinanderzusetzen. Uns interessieren also auch Geschichten, die in der Gegenwart spielen, wo Menschen in Berührung mit Objekten aus unserer Datenbank gekommen sind, zum Beispiel auf dem Flohmarkt. Diese Geschichten schlagen eine Brücke aus dem Gestern ins Heute. In unserer Arbeit als Museum ist es uns sehr wichtig, Kunst, Alltagskultur und Architektur der DDR nicht nur rein retrospektiv zu betrachten, sondern immer mit Fragen der Gegenwart und auch der Zukunft zu verbinden. 

Die Plattform ist mit Objekten aus der Themenwelt „Reisen” gestartet. Wieso ist die Wahl auf dieses Thema gefallen?

Das hatte mehrere Gründe. Zum einen erarbeiten wir aktuell eine Sonderausstellung zum transnationalen Tourismus zwischen der DDR, der ČSSR [Anmerkung der Redaktion: Tschechoslowakische Sozialistische Republik] und Polen. Auf unserer Plattform greifen wir diese Ausstellung thematisch auf. Wir wollen das Digitale und Analoge miteinander verbinden und immer wieder zurückspielen in den jeweiligen anderen Raum. Die Geschichten, die wir gerade über die Plattform sammeln, sollen sich dann auch in der analogen Ausstellung wiederfinden. Ein weiterer Grund war, dass wir davon ausgingen, dass im Urlaub häufiger der Fotoapparat gezückt wurde – wir behandeln hier ja eine Zeit vor der schnellen digitalen Fotografie, in der nur 24 Aufnahmen pro Film zur Verfügung standen. Zum Start der Plattform wollten wir bewusst ein populäres Thema wählen, bei dem wir vermuteten, dass es viele Fotografien und Erinnerungen gibt. 

Haben Sie ein persönliches Lieblingsobjekt aus der Themenwelt „Reisen”? Oder wurde eine Geschichte eingereicht, die Ihnen besonders im Kopf geblieben ist?

Die Frage nach dem Lieblingsobjekt ist schwierig – die Objekte sind ja sehr sehr unterschiedlich und teilweise auch sehr skurril. Ein sehr schönes Objekt und ein gutes Beispiel für ein Souvenir ist die Matroschka. Dazu wurden auch schon mehrere Fotos und Geschichten eingereicht, darunter auch eine, die keine DDR-Erinnerung ist. Eine Nutzerin berichtet, dass sie bei sich Zuhause in Istanbul eine Matroschka hat, die sie auf dem Markt auf dem Potsdamer Platz in Berlin gekauft hat, als Erinnerung an ihren 30-jährigen Aufenthalt in Deutschland. Auch solche Geschichten finden wir spannend.

Holzfigur "Matroschka"
Holzfigur "Matroschka", Sammlung Museum Utopie und Alltag, Foto: Armin Herrmann

Was passiert mit den eingereichten Beiträgen?

Die Idee ist, die digitalen Themenwelten als Teil der Sammlung zu begreifen und damit den Ursprungsgedanken des Museums aufzunehmen. Wir wollen die Geschichten der Nutzer*innen für alle sichtbar machen. Das passiert zunächst einmal durch die digitale Plattform als erste Form des Sichtbarwerdens und des Archivierens der vielen individuellen Perspektiven. Es ist aber tatsächlich eine wichtige Frage, wie wir als Museum Beiträge unabhängig von der Plattform ablegen und kategorisieren, sodass sie auch für Forschung und Wissenschaft nutzbar sind. 

Wie geht es mit Museum Utopie und Alltag digital weiter?

Am 26. Juni startet unsere Sonderausstellung zum transnationalen Tourismus. Solange wollen wir auf jeden Fall noch Geschichten zur Themenwelt „Reisen” sammeln. Dann werden wir schauen, welches Ausstellungsprojekt als nächstes ansteht und passend dazu Objekte aus einer neuen Themenwelt auf der Plattform einstellen. Auf diese Weise wollen wir unseren Sammlungsbestand nach und nach digital erschließen und gemeinsam mit den Bürger*innen kontextualisieren.

Fabienne Wehrle

Fabienne ist Projektmanagerin und Online-Redakteurin. Sie betreut die Plattform, kümmert sich um die Social-Media-Kanäle und ist für die Kommunikation rund um Bürger schaffen Wissen zuständig.