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“Es ist  die Situation, die schmeckt. Und die ist jeweils einzigartig.“- Nachgeforscht bei Jan-Peter Voß aus dem Schmeck!Projekt 

06. Dezember 2021 von Antonia Sawallisch
mediterrane Lebensmittel/ pixabay lukasbieri
mediterrane Lebensmittel/ pixabay lukasbieri

Das Schmeck!Projekt der Technischen Universität Berlin forscht mit 25 Bürger*innen rund um Fragen, wie Essen von jeder einzelnen Person unterschiedlich sinnlich wahrgenommen und erlebt wird. Gemeinsam zu untersuchen, wie Schmecken stattfindet, wie es sich experimentell verändern und (selbst) gestalten lässt, sind Ziele des Projektes. Zum Ende des Projektzeitraumes sprachen wir mit Projektleiter Prof. Dr. Jan-Peter Voß. 

Welchen Impuls gab es, ein Projekt über das Schmecken zu initiieren und warum haben Sie sich dabei für den Citizen-Science-Ansatz entschieden?

Zuallererst war die Ästhetik entscheidend – also die sinnliche Wahrnehmung - und die damit verbundenen Geschmäcker und Gefühle, die in der Sozialwissenschaft, Innovations- und Governanceforschung aber auch Nachhaltigkeitsforschung vernachlässigt werden. Der Fokus liegt in all diesen Untersuchungen gewöhnlich auf materiellen Interessen, strategischen Kalkulationen und Verhandlung von Regeln durch Rhetorik, Sanktionen, Anreize. Dabei sind Menschen nicht Computer, sie existieren nicht nur kognitiv und strategisch, sondern auch sinnlich und affektiv. Denn in der sinnlich-ästhetischen Zuwendung und Verarbeitung von Eindrücken, das Treffen von Unterscheidungen und Urteilsbildung liegt eine eigene Form von Intelligenz.

Nun könnte man sagen, die sinnliche Wahrnehmung lässt sich sowieso nicht ändern, weil das doch physisch-biologisch determiniert ist, wie unsere Körper wahrnehmen und wo sie drauf abfahren und was sie unangenehm finden. Oder, wenn es schon nicht die Gene sind, dann doch die großen gesellschaftlichen Strukturen, z.B. die Klasse, in die man geboren ist, die für den Rest des Lebens festlegen, ob man Jazz oder Schlager mag oder Salat mit Feigen und gratiniertem Ziegenkäse oder Nachos mit Käse überbacken.

Aber das wurde durch neuere Ansätze der „Soziologie der Sinne“ und der interdisziplinären „sensory studies“ in den letzten Jahren zunehmend in Frage gestellt. Es zeigt sich vielmehr, dass sinnliche Wahrnehmungsweisen geübte Praktiken sind, die oft unhinterfragt übernommen und reproduziert werden, die sich aber auch ändern können, wenn sich die Umstände ändern, also wenn man sich in neuen Situationen und unter anderen Menschen befindet – oder wenn man die eigenen Wahrnehmungsweisen hinterfragt und anfängt zu forschen, woran es liegt, dass einem das eine gefällt und das andere nicht und anfängt zu experimentieren, ob es nicht auch anders ginge, wenn man seine Aufmerksamkeit anders ausrichtet oder die Umstände modifiziert.

Und diese Gemengelage gab den Impuls, die sinnliche Wahrnehmung und die Affekte beim Essen aus wissenschaftlicher Sicht zu untersuchen: Was passiert beim Schmecken, wie kommt es, dass wir etwas genießen oder ablehnen, was spielt da alles mit hinein, z.B. dass manche Gerichte in verschiedenen Situationen wie im Urlaub oder im Alltag ganz anders schmecken? Und können wir das ändern?

Weil der Forschungsstand, an dem wir ansetzten, die sinnliche Wahrnehmung ist und speziell das Schmecken als Ergebnis der konkreten (aber mitunter sehr verschiedenen) Alltagspraktiken, war es klar, dass wir in der Forschung da herankommen müssen, an das Schmecken in Alltagssituationen, um das „wirkliche Schmecken“ zu untersuchen und ggf. zu verändern.

Sowohl für die Vielfalt gelebter Alltagspraktiken wie auch für die dabei stattfindenden sinnlichen Empfindungen und die daraus resultierenden Gefühle sind wir als Profi-Wissenschaftler*innen aber nicht besser ausgestattet als die Schmeckenden selbst. Im Gegenteil, sie sind die besten Expert*innen ihrer Praxis und Empfindungen. Deshalb habe wir einen Citzen-Science-Ansatz gewählt.

In den letzten drei Jahren haben Sie im Schmeck!Projekt dafür mit Bürger*innen in vier Forschungssträngen zusammengearbeitet. Lassen Sie uns gerne jeweils einen kurzen Blick auf die vier Schwerpunkte werfen. 

Der Rahmen, in dem alle diese Stränge entstanden, zwischendurch diskutiert und miteinander rückgekoppelt wurden, war das monatliche Plenartreffen des erweiterten Projektteams. Das Projektteam bestand aus 25 Amateurfroscher*innen aus unterschiedlichen Gesellschaftsbereichen, die wir über eine Aufforderung zum Mitforschen gefunden haben und ein interdisziplinäres Team von insgesamt 10 Profiforscher*innen. In der zweiten Sitzung haben wir zu vier Forschungssträngen Arbeitsgruppen gebildet, in denen sich jeweils einige Amateur- und Profiforscher*innen besonders engagierten.

In einem Schmecklabor auf der Langen Nacht der Wissenschaften wurden standardisierte Experimente durchgeführt, die beispielsweise untersuchten, ob  die Form von Bonbons die Intensität des Empfindens von Süße beeinflusst. Diese Ergebnisse werden gegenwärtig von Prof. Langen ausgewertet.

Im Kontrast dazu entstand die Idee der Kunstinstallation „Bitterparty, möbliert“ von Markus Binner, die dazu einlädt, sich dem Bitteren auf ungewohnte Weise zu nähern, um zu explorieren, wie sich das Schmecken künstlerisch gestalten lässt. Leider konnte die Installation aufgrund der Covid-19 Pandemie noch nicht stattfinden.

Zwischen diesen naturwissenschaftlichen und künstlerischen Zugängen haben wir zwei aufeinander aufbauende Stränge verfolgt, die auf qualitativer Sozialforschung (teilnehmende Beobachtung, Ethnografie) und auf methoden-offenem, partizipativem und kreativem Experimentieren ansetzen. Das waren einmal methodische Erkundungen dazu, wie wir Schmecken im Kontext von Alltagssituationen überhaupt beobachten und dokumentieren können. Wir haben verschiedene Methoden der „Gustografie“ entwickelt und erprobt. Ein Ergebnis war, dass es gar nicht nur das Essen selbst ist, das auf diese oder jene Weise schmeckt, oder jeder einzelne Mensch mit seinen Vorlieben, sondern eigentlich die jeweiligen Situationen, in denen man sich befindet. Und die wiederum sind durch so viele Elemente bestimmt und so komplex und vielfältig, dass man nicht kausalanalytisch bestimmen und mechanisch kontrollieren kann, welches Schmeckerlebnis tatsächlich entsteht.

Diese Erkenntnisse haben wir in einem vierten Strang aufgegriffen, in dem wir eine partizipative Ausstellung im Oktober 2020 im Museum für Naturkunde Berlin geplant hatten, um einen weiteren Kreis von Besucher*innen mit ihrem eignen Schmecken experimentieren zu lassen. Die Ausstellung haben wir dann so konzipiert, dass wir exemplarisch einige Elemente einer Schmecksituation herausgegriffen haben, die die Teilnehmende variieren konnten, um zu prüfen, was das mit ihrem Schmecken macht. Beispielsweise wie sie das Essen zu sich nehmen oder welche Geräusche sie beim Essen hören. Zum Schluss konnten sich die Teilnehmenden dann daraus eine eigene Schmecksituation zusammenstellen und erfahren, wie das zusammenwirkt.

Sie arbeiten mit der Methode der “Gustografie”. Was versteht man genau darunter und worum ging es bei dieser methodischen Erkundung?

Unser Ziel war es, so etwas wie die „Ethnomethoden des Schmeckens“ zu erheben, also die Methoden, mit denen Menschen selbst im Alltag ihr Schmecken beobachten und damit auch schon mit formen. 

Wir haben zuerst alle Mitglieder im Projektteam „wilde Autogustografien“ durchführen lassen, d.h. sie sollten in einer selbst gewählten Situation ihr eigenes Schmecken beobachten und dokumentieren, so wie es ihnen am angemessensten und angenehmsten erschien. Die Idee war hier, möglichst wenig künstlich vorzugeben, sondern die Beobachtung möglichst nah an der Alltagsrealität zu halten. Auch weil wir, sensibilisiert durch den Forschungsstand, davon ausgehen mussten, dass die Art der Beobachtung das Schmecken selbst schon beeinflusst.

In dem, wie die Teilnehmenden ihr Schmecken beschrieben, tauchten die unterschiedlichsten Elemente auf, nicht nur süß, sauer oder salzig wurden genannt, sondern z.B. auch, welche Erinnerungen einem dabei durch den Kopf schießen, ob man gerade gehetzt durch den Bahnhof rennt oder frisch geduscht ist, die Herausforderungen etwas auf die Gabel und in den Mund zu bekommen, wie es beim Kauen knackt, was die gesagt haben, die dabei waren usw. Auch die Form der Dokumentation war sehr vielfältig - darunter waren Aquarellbilder, Kurven und Tabellen.

Das haben wir dann ausgewertet: Wir haben gesehen, dass Schmecken beschrieben wird mit einem Fokus auf

(1) Sensorik (also Empfindung im Mund z.B. sauer, knusprig),

(2) Assoziation (die Gedanken, die dabei durch den Kopf gehen, z.B. Erinnerungen),

(3) Praxis (was genau gegessen wird und wie, z.B. wie zum Mund geführt, abgebissen, gekaut oder geschluckt wird),

(4) Situation (in welcher Umgebung und in Interaktion mit welchen anderen Menschen, z.B. im Gedränge auf dem Bahnhof oder beim Candle-Light Dinner zu zweit).

Darüber hinaus wurden auch Beobachtungen aufgeführt zu

(5) gesellschaftlicher und kultureller Kontext (z.B. relevante Normen oder Machtverhältnisse), (6) Qualität (Bewertungen des Geschmackserlebnisses, z.B. lecker oder überteuert),

(7) Reflexion der Beobachtung selbst (wie kommt es dazu, so wahrzunehmen und nicht anders, z.B. bewusste Ausrichtung von Aufmerksamkeit und wie das das Schmecken beeinflusst).

Wir wollten dann in einem zweiten Durchlauf der autogustografischen Arbeit testen, was passiert, wenn wir nun nicht mehr „wild“ und „naiv“ an die Beobachtung des Gegenstandes herangehen, sondern „diszipliniert“ und „wissenschaftlich-analytisch“. Wir haben also Leitfäden dazu entwickelt, wie man das Schmecken jeweils spezialisiert auf einen ausgewählten Fokus oder eine Dimension (z.B. Sensorik oder Praxis) beobachten kann. Die spezialisierten Fokusse 1-4 haben wir unter uns aufgeteilt, um damit noch einmal eine „disziplinierte Autogustografie“ durchzuführen. Unter anderem haben wir uns zu viert zu einem Spaghettiessen getroffen, bei dem die gleiche Esssituation jeweils mit verschiedenem Fokus beobachtet wurde.

Wie genau unterscheiden sich die Ergebnisse aus den „wilden“ Autogustografien und den „disziplinierten“ Gustografien? 

Das Ergebnis dieser „disziplinierten“ Autogustografien im Vergleich mit den „wilden“ war, dass einerseits natürlich sehr viel mehr Details in der jeweiligen Dimension wahrgenommen wurden und der Bericht insgesamt kohärenter war. 

Aber die wichtigste Erkenntnis war, dass mit der kontrollierten Beobachtung das Schmecken ein ganz anderes wurde, es hat sich gar nicht mehr frei entfalten können. Stattdessen ist aus der fokussierten Testsituation ein neues künstliches Schmecken entstanden. Das war interessant, manchmal auch genussreich. Aber es war klar, dass das nicht das Schmecken ist, das entstanden wäre, wenn die Beobachtung frei gewesen wäre, wie in der ersten „wilden“ Autogustografie.

Wir haben daraus den Schluss gezogen, dass das wirkliche Schmecken im Alltag tatsächlich im Zusammenspiel der verschiedensten Elemente entsteht, die in den „wilden“ Autogustografien aufgetaucht sind – und das im Zusammenspiel mit einer freien Beobachtung, die sich diesen Elementen intuitiv zuwendet und sie in die sinnliche Wahrnehmung integriert. Das Ganze ist recht fragil. Wenn man ein Element verändert, und sei es nur die Art und Weise der Beobachtung, kommt etwas ganz anderes dabei heraus. Das Schmecken verändert sich. Es ist also eigentlich die Situation, die schmeckt. Und die ist jeweils einzigartig.

Das bedeutet, dass man Schmecken also eigentlich gar nicht angemessen beobachten und verstehen kann, wenn man es „eingesperrt“ ins Labor und in bestimmte methodische Rahmungen versucht nachzustellen – es ist dann etwas anderes, als das, was in Wirklichkeit im Alltag geschieht. 

Außerdem lassen sich Schmeckerlebnisse offensichtlich nicht auf einzelne Faktoren zurückführen, dadurch erklären und technisch steuern (z.B. indem mehr Zucker zugetan wird, die Beleuchtung verändert wird oder bestimmte Informationen mitgegeben werden). Vielmehr ist es jeweils das komplexe Zusammenspiel tausender verschiedener Faktoren in jeder Situation, welches das Schmeckerlebnis hervorbringt.

Wir haben auf der Basis dieser Einsicht in einem weiteren Forschungsstrang versucht zu erkunden, inwieweit die Komplexität und Fragilität des Schmeckens einen experimentellen Gestaltungsspielraum eröffnet – und zwar für jede*n Schmeckenden selbst im Kontext der speziellen Situationen, in denen gegessen wird. Schließlich bedeuten die Ergebnisse aus unseren „wilden“ und „disziplinierten“ Autogustografien auch, dass kleinste Veränderungen in einzelnen Elemente größte Auswirkungen auf das Schmeckergebnis haben können. Und solche Veränderungen kann jeder einfach vornehmen. Man braucht einfach nur mal woanders anrichten, mit den Fingern essen oder eine andere Musik anmachen oder bewusst über die Produktionsbedingungen des Essens nachdenken, das man zu sich nimmt – und schon verändert sich etwas im Schmecken. Auf spielerisch-kreative Weise können wir also alle unser eigenes Schmecken gestalten und experimentell danach suchen, wie wir anders auch gut oder besser schmecken können – und auch ganz andere Dinge als die, von denen wir gewohnt sind, dass sie uns glücklich machen. 

Der Projektzeitraum endet im Dezember 2021 - ein guter Anlass für ein Resümee. Wie blicken Sie zurück auf die gemeinsame Arbeit im Schmeck!Projekt und was geschieht nun mit den Ergebnissen? 

Das eigene Schmecken hat sich verändert und ist reflexiver, spielerischer und experimenteller geworden. Wir haben tolle Ergebnisse erzielt an denen sich auch zeigt, dass es möglich ist, mit Citizen Science exzellente Forschung zu machen, auch im Bereich qualitativer Sozialforschung, bei der Citizens nicht nur als standardisierte menschliche “Datensammelmaschinen” eingesetzt werden. 

Dafür müssen aber auch Citizen Scientists bereit sein, einen hohen (zeitlichen) Aufwand zu leisten, mehr als das, was die meisten Leute als „Hobbyzeit“ zur Verfügung haben. Auch für die Profiforscher*innen und besonders die Projektleitung erfordert diese Arbeit immense Ressourcen und Improvisationsbereitschaft. Oftmals gibt es dafür leider nicht die passenden organisatorischen Rahmen in der öffentlichen Verwaltung und den fachwissenschaftlichen Karrieremustern. 

Bei uns kam noch ein vorgezogener  Projektstart hinzu, dadurch hatten wir keine Zeit uns im Team der beteiligten Profi-Wissenschaftler*innen abzustimmen. Dabei waren wir ein interdisziplinäres Team ohne Erfahrung in gemeinsamer Arbeit und mit einer doppelten Projektleitung. Das hat nachher viele Reibungsverluste mit sich gebracht. Dann hat uns noch die Covid-19-Pandemie einen Strich durch die Rechnung gemacht. Die hat die Dynamik erheblich gebrochen und riesigen Zusatzaufwand verursacht. Einige Projektteile konnten wir so gar nicht realisieren.

Das Schmeck!Projekt war eine großartige Experimentierbaustelle in der wir zu Erkundungen aufgebrochen sind, radikale Innovationen angestoßen haben, die auch relevant für Fachdiskurse sind. Leider endet mit dem Projektende auch meine Anstellung - so viel zur Kompatibilität mit Karriereanforderungen. Dennoch werde ich im Abstand von einigen Jahren immer mal wieder Citizen-Science-Forschung machen, weil es auf eine ganz spezielle Weise ein Ausleben der Lust am Forschen erlaubt, nicht nur bei mir selbst, auch bei allen anderen. Wenn das entsteht, ist es großartig! 

 

Antonia Sawallisch

Seit 2021 unterstützt Antonia als studentische Mitarbeiterin das Team von Bürger schaffen Wissen.