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Wie steht es um die Bürgerwissenschaft? – Eindrücke vom Forum Citizen Science 2022

03. Juni 2022 von Gastautor*in(nen)
Forum Citizen Science 2022 © Barbara Frommann
Forum Citizen Science 2022 © Barbara Frommann

Gastautor: Nicolas Rode, Universität Potsdam


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Das Citizen Science Forum 2022 eröffnet den Teilnehmer:innen eine langfristige Perspektive, die den Wandel des Wissenschaftssystems und seiner Wissensgesellschaft bedeuten könnte.

Das bürgerwissenschaftliche Forum 2022 ist vorbei. Die Veranstaltung fand an der Hochschule Bonn-Rhein-Sieg (H-BRS) in Sankt Augustin nahe der UN-Stadt Bonn statt. Kurz gesagt, die Citizen-Science-Community in Deutschland ist bunter, internationaler und ambitionierter denn je.

Die Community ist erstens bunt und vielfältig. Die rund 135 Konferenzteilnehmer:innen waren in der deutlichen Mehrheit weiblich. Die partizipatorischen Tendenzen der Bürgerwissenschaft mit ihrer Inklusivität und die schädlichen Auswirkungen eines männlich geprägten Kapitalismus könnten dazu beitragen, dass besonders Naturwissenschaftlerinnen den Schulterschluss mit der Gesellschaft suchen. Es gibt jedoch auch noch Lücken in der Community. Obwohl für Citizen-Science-Projekte eine Menge Hard- und Software benötigt wird, Stichwort Open Hardware, habe ich den Eindruck, dass dieser eher männlich dominierte Ingenieurbereich auf der Konferenz, mit einigen Ausnahmen, eher unterrepräsentiert ist.

Das Forum ist zweitens internationaler denn je. Das internationale Governance-System der Forschung wird derzeit von globalen Trends und Krisen geprägt und dies war während der Veranstaltung allgegenwärtig. Die Organisator:innen haben daher beschlossen, die Debatte über die Theorien und Praktiken von Citizen Science mit dem globalen politischen Rahmen der 17 Ziele für nachhaltige Entwicklung (SDGs) der Vereinten Nationen zu verbinden. Die Herausforderung besteht darin, die 17 Ziele für nachhaltige Entwicklung (SDGs) mit ihren 196 Prioritäten und 232 Indikatoren auf die lokale Ebene zu übertragen. „Wählen Sie Ihre Indikatoren frei aus", empfahl Maria Camila Sanint vom Public Innovation Lab, Manizales, Kolumbien. Es ist unmöglich, alle Indikatoren zu erfassen, und die Bürgerwissenschaftler:innen müssen sich aussuchen, welche Indikatoren sie überwachen und mit ihnen arbeiten können.  

Dass die nachhaltige Transformation der Gesellschaft im Vordergrund steht, ist nachvollziehbar. Trotzdem werden die doch sehr jungen Bürgerwissenschaften und die damit verbundene Forschungslandschaft dadurch enorm in die Verantwortung genommen, denn in den meisten Wissenschaftssystemen spielt der Ansatz eher eine sehr untergeordnete Rolle (auch wenn es in einigen Ländern sehr transformative Ansätze im Naturschutz gibt). Oft wurde die zentrale Rolle der Bildungsmission betont. Ohne Bürgerinnen und Bürger für die Wissenschaft zu aktivieren, wird die Rettung des Planeten und seiner diversen Bewohner:innen kaum möglich sein. Dies ist auch das Thema der nächsten Europäischen Citizen-Science-Konferenz zum Thema "Planetare Gesundheit".

Das Forum ist ambitionierter, gar strategischer denn je. Strategischer, da die AG Weißbuch gemeinsam mit Engagierten der Citizen-Science-Community eine umfassende Citizen-Science-Strategie 2030 entwickelt hat, die Ende April veröffentlicht wurde. Die Vision des mehr als 140 Seiten umfassenden Dokuments ist klar: Bürgerwissenschaft soll weiterentwickelt werden, um ihr volles transformatives Potenzial in Wissenschaft und Gesellschaft zu erreichen. Die Strategie umfasst daher 15 Handlungsfelder, die alle erhebliche Auswirkungen auf die involvierten Akteur:innen und ihre Ressourcen haben. Ein Blick in die Strategie lohnt sich also für alle Interessierten.

Als Politikwissenschaftler kann ich solche Ansätze und die daraus folgenden Diskussionen in der Wissenschaft nur begrüßen, aber es ist leider für viele im deutschen Wissenschaftssystem, aus verschiedenen Gründen immer noch keine Priorität. In meiner Tätigkeit als Transferreferent bin ich persönlich für die Einführung des Konzepts der Bürgerwissenschaften an der Universität Potsdam verantwortlich. Ich werde daher ständig gefragt und frage mich auch, warum wir uns im Wissenschaftsmanagement auf die schwierige Ansätze der Bürgerwissenschaft einlassen sollten? Warum sollten Forscherinnen und Forscher solche Ansätze in ihrer Forschung, Lehre und im Transfer nutzen? Das sind die beiden Hauptfragen, die mich in den letzten sechs Jahren verfolgt haben.

Im Winter 2016 bin ich bei der Recherche und Koordination der Antragstellung für die erste Förderphase (2018-2022) des neuen Förderprogramm "Innovative Hochschule" (IHS) des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) auf das Konzept Citizen Science gestoßen. Die Universität Potsdam hat Citizen Science als wichtigsten Meilenstein unseres Teilprojekts "Gesellschaftscampus" formuliert. Somit konnten wir uns neben mindestens drei weiteren IHS-Projekten, u.a. die IHS Jade-Oldenburg, die Hochschule Bonn-Rhein-Sieg und Innohub-13 (TH Wildau und BTU Cottbus) intensiv mit Citizen Science beschäftigen. Meine Kollegin Sabine Rieder ist dem Netzwerk von "Bürger schaffen Wissen" beigetreten, hat es aktiv unterstützt und uns dabei auch wichtige Informationen nach Potsdam gebracht. Diesen Schritt kann ich auch nur allen Interessierten empfehlen.

In Potsdam haben wir dann 2018 eine Umfrage unter 1000 Bürgerinnen und Bürgern für eine inklusive Bürgeruniversität in Potsdam durchgeführt, um zielgruppengerechte Forschungs-& Transferformate zu entwickeln. Wir haben eine professionelle Podcast-Reihe namens Listen.UP gestaltet. Wir haben Wissenschaftsdiskussionen mit Live-Musik verbunden, um zielgruppengerecht zu kommunizieren und danach entspannt in den Dialog treten zu können. Wir haben zahlreiche dialogorientierte Campus-Touren in der Region und digital in unserem virtuellen 360°-Campus-Panorama durchgeführt, um Bürgerinnen und Bürger mit unseren Forschern auf dem Campus in Golm zu verbinden. Auf europäischer Ebene haben wir Aktivitäten zur Wissenschaftskommunikation und zum bürgerschaftlichen Engagement in den sechs Mitgliedsuniversitäten der European Digital UniverCity (EDUC) erfasst.  Es sah alles ziemlich gut aus, bis wir feststellten, dass Bürgerwissenschaft auch weiterhin ein ziemlich neuer wissenschaftlicher Ansatz ist und nicht einfach in die Universitätsstruktur integriert werden kann. Aus dieser Erfahrung entstand dann 2021 auch das Trainingsformat Trust MAP “Trust-Building in Multi-Stakeholder-Projects by Anticipation & Play“ in Kooperation mit Dr. Rubina Zern-Breuer von der deutschen Universität für Verwaltungswissenschaften Speyer, das wir auf dem Forum Citizen Science mit diversen Akteur:innen interaktiv vorstellen konnten.

Insgesamt können wir feststellen, dass die deutsche Wissenschaftslandschaft bei Citizen Science noch enorme Entwicklungspotentiale hat. Hier spannt sich eine große Lücke zwischen Ambitionen und gelebtem Wissenschaftsalltag.

Wie kann diese Lücke zwischen Ambitionen und Herausforderungen bis 2030 geschlossen werden?

Das deutsche Hochschulsystem braucht aktuell mehr Debatten über die Öffnung des Wissenschaftssystems für breitere Teile der Gesellschaft. Citizen Science ist dabei ein ganz zentraler Baustein. Die Zeichen stehen gut, dass dies fortgeführt wird. Zusätzlich müssen die öffentlichen und privaten Mittel für Citizen-Science-Projekte massiv erhöht werden, mindestens um den Faktor zehn bis 2030.  Insbesondere die Hochschulen müssen bei diesem Thema gestärkt werden, damit auch dementsprechend neue Hochschulstudiengänge, die sich mit den neuen Herausforderungen dieses jungen Feldes auseinandersetzen, an den Start gehen. Vorstellbar sind sofort Masterstudiengänge zu Themen wie „Open Science & Citizen Science“, „Wissenschaftspolitik“ oder gar „Citizen Science Entrepreneurship & Management“. Dazu muss Citizen Science in die universitären Forschungs- und Transferstrategien, sowie in die Hochschulentwicklungspläne. Um dies zu erreichen muss die Citizen-Science-Gemeinschaft weiter so aktiv bleiben.

 

Über den Gastautor

Nicolas Rode arbeitet seit 2016 an der Universität Potsdam als Referent für Wissens-und Technologietransfer. Der Schwerpunkt seiner Arbeit liegt auf der Verknüpfung von Forschungs- und Innovationskompetenzen. Als Politikwissenschaftler hat er dabei immer ein besonderes Augenmerk auf Formate mit zivilgesellschaftlichen Akteur:innen.

 


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Gastautor*in(nen)

Auf dem Blog von Bürger schaffen Wissen laden wir Gastautor*innen ein über ihre Perspektive auf Citizen Science und jeweilige Themenschwerpunkte zu berichten. Gastbeiträge spiegeln nicht zwangsläufig die Meinung der Redaktion wider.