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„Die aktive Fehlerkultur im Bereich Citizen Science ist besonders” – Nachgeforscht bei Julia Gantenberg von GINGER

Foto: Pixabay / Pexels

Bei GINGER Gemeinsam Gesellschaft erforschen” nähern sich Wissenschaftler*innen gemeinsam mit interessierten Bürger*innen dem Phänomen gesellschaftlicher Zusammenhalt. Im Interview teilt Projektleiterin Dr. Julia Gantenberg vom Zentrum für Arbeit und Politik (ZAP) der Universität Bremen ihre Erfahrungen mit sozialwissenschaftlicher Citizen Science, verschiedenen Beteiligungsformaten und Kooperationen außerhalb der Wissenschaft.

Frau Dr. Gantenberg, was ist die Idee hinter dem Projekt „GINGER – Gemeinsam Gesellschaft erforschen"?

Gantenberg: Bei GINGER haben wir uns dem großen Thema gesellschaftlicher Zusammenhalt angenommen. Die Idee ist, dieses Phänomen gemeinsam mit Menschen außerhalb der Wissenschaft zu betrachten, um so ein umfassenderes Verständnis zu bekommen. Wir glauben, dass Citizen Scientists hier einen spannenden inhaltlichen Mehrwert zur Erforschung beitragen können. Im Projekt geht es uns aber auch darum, sozialwissenschaftliche Citizen-Science-Forschung zu betreiben, also Social Citizen Science zu erproben. Und natürlich wollen wir mit GINGER den Citizen Scientists die Möglichkeit bieten, aktiv an sozialwissenschaftlicher Forschung zu partizipieren und hierüber ihr Wissenschaftsverständnis und bestenfalls ihre Wissenschaftsmündigkeit fördern.

Welchen Fragestellungen nähert ihr euch gemeinsam mit den Teilnehmenden?

Gantenberg: Erstmal fragen wir uns, was unter gesellschaftlichem Zusammenhalt eigentlich verstanden wird und in welchen Bereichen er von den Citizen Scientists gesehen und als erforschenswert betrachtet wird. Daraus ergeben sich viele verschiedene Schwerpunktsetzungen. Zum Beispiel haben wir uns schon mit Begegnung im öffentlichen Raum, Solidarität in Krisen, den UN-Nachhaltigkeitszielen, Klimagerechtigkeit und Zukunftsperspektiven von Jugendlichen beschäftigt.

Ihr verwendet bei GINGER eine sehr offene Zielgruppenansprache. Wie kommen die Teilnehmenden zum Projekt?

Gantenberg: Wir haben drei verschiedene Beteiligungsansätze. Zum einen ist eine individuelle Teilnahme möglich. Einzelpersonen oder Gruppen kommen dabei von sich aus auf uns zu. Unsere Gesellschaftsforscher*innen, wie wir sie nennen, können sich digital und lokal in Bremen beteiligen. Der zweite Ansatz sind gezielte Kooperationen mit zivilgesellschaftlichen Organisationen. Außerdem haben wir singuläre Forschungsevents geplant, wo wir uns ein bestimmtes Thema vornehmen und mit verschiedenen Gruppen daran forschen wollen. Bislang sind tatsächlich viele Anfragen über Bürger schaffen Wissen an uns gerichtet worden. Andere sind zum Beispiel über die mediale Berichterstattung oder unsere Netzwerke auf uns aufmerksam geworden.

Wer macht bei GINGER mit?

Gantenberg: Unsere Gesellschaftsforscher*innen sind, was das Alter angeht, sehr gemischt. Das fängt bei ungefähr 18 Jahren an und geht bis ins Rentenalter. Die meisten Teilnehmenden haben vor, zu studieren oder haben bereits studiert und möchten in ihrer Berufstätigkeit nochmal wissenschaftlich arbeiten oder einfach mal in eine andere Disziplin rein schnuppern. Über die Kooperationen erreichen wir ganz andere Zielgruppen und das war auch unsere Hoffnung. Da steht dann meistens ein Träger dahinter, der eine bestimmte Gruppe mit uns forschen lassen möchte. Über Kooperationen haben wir bereits mit einer Förderklasse geforscht, mit Mädchen und jungen Frauen mit Flucht- und Migrationshintergrund und mit Jugendlichen unterschiedlichster demographischer Hintergründe über den Verein für akzeptierende Jugendarbeit, die Freiwilligenagentur und den Sozialen Friedensdienst hier in Bremen.

Wie forschen die teilnehmenden Bürger*innen konkret mit? Welche Aufgaben können sie in der Forschung übernehmen?

Gantenberg: Wir möchten mit dem Projekt einen Beitrag zur Science of Citizen Science, also der Forschung über Citizen Science, liefern und erproben, wie sozialwissenschaftliche Citizen-Science-Projekte funktionieren können. Deshalb bieten wir flexible Partizipationsgrade und die Möglichkeit, an allen Stellen des Forschungsprozesses mitzumachen. Von der Formulierung von Forschungsfragen über die Datenerhebung und -auswertung bis hin zur Ergebnispräsentation ist im Prinzip alles möglich. Es gibt Teilnehmende, die den gesamten Forschungsprozess mit einem eigenen kleinen Projekt durchlaufen wollen. Und es gibt auch solche, die sich zum Beispiel als Gruppe mit bereits erhobenen Daten beschäftigen und diese dann interpretieren.

Ein Raum mit Menschen in Kleingruppen.
Foto: GINGER

Sie haben als dritten Beteiligungsansatz singuläre Forschungsevents angesprochen. Wie können Bürger*innen dabei mitforschen?

Gantenberg: Mit diesen Events wollen wir im Frühjahr 2023 starten. Wir möchten unter anderem das Format des Public Data Sprints erproben, das einem Hackathon ähnelt. Dabei nehmen wir uns einen bestimmten Themenaspekt von gesellschaftlichem Zusammenhalt heraus und bearbeiten einen bestehenden Datensatz mit verschiedenen Fragestellungen in Gruppen aus Citizen Scientists, Studierenden und Fachwissenschaftler*innen. Die Idee ist, über einen kurzen Zeitraum, also etwa zwei Tage, ganz intensiv gemeinsam zu forschen und am Ende ein Ergebnis zu präsentieren.

Gibt es Vorkenntnisse, die interessierte Bürger*innen für GINGER mitbringen sollten?

Gantenberg: Das Projekt ist so konzipiert, dass keine konkreten Vorkenntnisse nötig sind. Wir verstehen unsere Gesellschaftsforscher*innen als Expert*innen ihrer Alltagswelt. Durch die Teilnahme an GINGER wollen wir einen Zugang zu sozialwissenschaftlicher Forschung schaffen und die Scientific Literacy, also das Wissenschaftsverständnis, vergrößern. Wir wollen transparenter machen, wie Sozialwissenschaften funktionieren. Dazu haben wir einen Onlinekurs entwickelt, der den Teilnehmer*innen sozialwissenschaftliche Grundkenntnisse und Methoden vermittelt. Außerdem besprechen wir einzelne Methoden bei unseren digitalen und lokalen Austauschtreffen und haben verschiedene Workshopformate in petto.

Mit welchen Partner*innen außerhalb der Wissenschaftswelt arbeitet ihr zusammen?

Gantenberg: Wir sind grundsätzlich offen für Kooperationen mit Partner*innen aus ganz unterschiedlichen zivilgesellschaftlichen Bereichen. Wir haben bereits mit Trägern aus der Jugendarbeit und Erwachsenenbildung, Schulen, Akteur*innen der universitären Lehre, Freiwilligenagenturen und NGOs zusammengearbeitet. Je nach Partner*in sind die Kooperationen eher punktuell oder auch mittelfristig. Besonders interessant ist es für uns natürlich, zu sehen, welche konkreten Themensetzungen im Bereich gesellschaftlicher Zusammenhalt die Kooperationspartner*innen mitbringen.

Welchen Mehrwert bieten solche Kooperationen aus eurer Sicht?

Gantenberg: Aus unserer Sicht ist es sehr vorteilhaft, dass es bei den Kooperationen schon vorab eine mehr oder weniger fest definierte Gruppe von Citizen Scientists gibt, mit denen geforscht wird. Das gibt uns Planungssicherheit. Was man sich in diesem Kontext jedoch fragen muss, ist, wie freiwillig das Engagement tatsächlich ist. Wird den Citizen Scientists die Mitarbeit von den Trägern übergestülpt, oder sind sie initiativ mit einbezogen worden? Das merkt man dann natürlich gerade bei Jugendlichen auch an der Motivation bei der Zusammenarbeit.

Gab es weitere Herausforderungen im Rahmen der Kooperationen?

Gantenberg: Manche Kooperationen haben reibungslos funktioniert. Das war vor allen Dingen dann der Fall, wenn alle Beteiligten schon ziemlich genaue Vorstellungen davon hatte, was sie eigentlich möchten und das auch kommuniziert haben. Je mehr unterschiedliche Akteur*innen an so einem Prozess beteiligt sind, desto mehr Prozesslogiken und Zielvorstellungen müssen irgendwie unter einen Hut gebracht werden. Und natürlich haben die Partner*innen auch verschiedene Motive, eine Kooperation mit einem Forschungsprojekt anzustreben. Manche möchten ihren Teilnehmenden einen Einblick in Forschung geben, andere möchten mit den Ergebnissen arbeiten, zum Beispiel um politische Empfehlungen zu unterfüttern. Da muss man sehr viel aushandeln und reflektieren, um auch forschungsethischen Ansprüchen gerecht zu werden.

Durch die Kooperation habt ihr auch bereits Workshops mit Schulklassen und Jugendlichen gestaltet. Wie hat die Durchführung funktioniert?

Gantenberg: Wir haben grundsätzlich den Eindruck, dass Citizen Science für Schule und Unterrichtsgestaltung populärer wird, auch in unterschiedlichen Schulformen. Aus unserer Sicht hat die Durchführung gut funktioniert. Aus den Reflexionsrunden am Ende der Workshops haben wir erfahren, dass die Schüler*innen und Jugendlichen durch die Teilnahme ein besseres Verständnis von sozialwissenschaftlichen Forschungsprozessen gewonnen haben und es ihnen wichtig war, eingebunden, ernst genommen und gehört zu werden. Wir haben den Eindruck, dass es den Schüler*innen Spaß macht, sich am Projekt zu beteiligen. Und für uns ist natürlich auch ihre Perspektive auf die Gesellschaft sehr spannend.

Moderationskarten mit Notizen.
Foto: GINGER

Was haben Sie als Koordinatorin im Laufe des Projekts gelernt? Gab es etwas, das vielleicht überraschend war oder nicht nach Plan lief?

Gantenberg: Ja, das gab es alles. Ich finde Citizen Science vergleichsweise herausfordernd, denn sie erfordert viel Flexibilität in der Konzeption. Man braucht außerdem viele personelle Ressourcen für die Betreuung der Kooperationen, die Vor- und Nachbereitung. Es sind viele Reflexionsschleifen nötig und dann auch entsprechende Anpassungen der Formate und Ziele. Es geht schon damit los, dass man ja mit Freiwilligen arbeitet und auf sie angewiesen ist, aber nur in einem gewissen Rahmen in der Lage ist, diese Mitarbeit auch wertzuschätzen. Hinzu kommen Themen wie Datenschutz und Forschungsethik. Das sind Dinge, über die man sich vorab und auch zwischendurch immer wieder Gedanken machen muss. Was ich sehr besonders finde im Bereich Citizen Science, ist, dass eine aktive Fehlerkultur gelebt wird. Der Umgang mit Problemen und Hindernissen wird wirklich sehr offen in der Community besprochen und das trägt natürlich dazu bei, Citizen Science gemeinsam zu verbessern. So ein offener, uneitler Austausch ist sehr viel wert.

Was wünschen Sie sich für die weitere Entwicklung von Citizen Science?

Gantenberg: Was ich tatsächlich wichtig finde, ist die Frage nach der Verankerung und Nachhaltigkeit von Citizen Science. Es steckt in der Projekt- und Förderlogik, dass Projekte in der Regel eine gewisse Laufzeit haben und dann enden. Aber was macht man dann mit den Menschen, die man gewonnen hat und die Lust haben, mitzuforschen. Es gibt so viel Potenzial und Interesse in der Gesellschaft, sich an Forschung zu beteiligen. Aus meiner Sicht müsste auf lokaler und kommunaler Ebene, gerade auch an Wissenschaftsstandorten, mehr darüber nachgedacht werden, wie man Citizen Science besser verankern und solch ein Engagement weiter nutzen kann. 

Am 17. und 18. März findet der erste Public Data Sprint von GINGER in Zusammenarbeit mit der Lernplattform EPINetz zum Thema Gemeinsam soziale Netzwerke erforschen (lernen)" an der Universität Hildesheim statt. Die Veranstaltung steht allen Interessierten offen, es sind keine Vorkenntnisse nötig. Eine Anmeldung ist bis zum 8. März per Mail an ginger@uni-bremen.de möglich. 

Fabienne Wehrle

Fabienne ist Projektmanagerin und Online-Redakteurin. Sie betreut die Plattform, kümmert sich um die Social-Media-Kanäle und ist für die Kommunikation rund um mit:forschen! Gemeinsam Wissen schaffen zuständig.